Erhält ein Kind die Diagnose Typ-1-Diabetes, ändert sich der Familienalltag schlagartig. Wie man damit umgehen kann und wo Eltern und Kinder Unterstützung erhalten, erklärt Diabetologin Stefanie Wildi.
Stefanie Wildi
Fachärztin für FHM Kinder- und Jugendmedizin und spezialisiert in pädiatrischer Endokrinologie und Diabetologie
Frau Wildi, vor welchen Herausforderungen steht eine Familie, wenn ein Kind an Diabetes Typ 1 erkrankt?
Es ist ein unglaublicher Einschnitt – für Kind, für Eltern und Geschwister. Beim Typ-1-Diabetes kommt die Diagnose oft von jetzt auf gleich. Bis dato lässt sich Diabetes weder aufhalten noch heilen, wir können nur mit Insulin gegensteuern. Die ganze Familie steht also erst mal kopf und muss sich der neuen Herausforderung stellen.
Wie wird Diabetes bei Babys oder Kleinkindern diagnostiziert?
Erste Anzeichen sind häufiges Trinken, häufiges Wasserlassen, eine schleichende Gewichtsabnahme und Müdigkeit. Oft erfolgt die Diagnose beim Kinderarzt. Dazu wird entweder der Blutzucker oder der Zucker im Urin gemessen.
Wie geht es weiter?
Nach Diagnosestellung wird das Kind direkt ins Spital oder in eine Fachpraxis überwiesen. Das Wichtigste, was die Familie unmittelbar lernen muss, ist, wie man den Blutzucker misst und Insulin spritzt. Im ersten Gespräch versuchen wir, die Eltern aufzufangen, zu informieren und ihnen klarzumachen: Sie haben nichts falsch gemacht. Schnell erlernen sie den Umgang mit Blutzuckermessgerät, Insulin-Pen oder -Pumpe. Wir üben gemeinsam, und je nach Alter und Situation probiert das Kind es schon selbst.
An wen können sich Familien nach der Diagnose wenden?
In den ersten Wochen sind wir 24 Stunden für die Familien da, bis sie alles selbstständig machen können. Die Hauptansprechperson und zuständig für die Einstellung der Insulindosis ist die Diabetologin oder der Diabetologe. Zum Team gehören auch eine Ernährungsberaterin und eine Psychologin. Der Verein Swiss Diabetes Kids bietet ebenfalls wertvolle Unterstützung und schaut individuell, was Familien brauchen: Beratungsgespräche, Schulungen, Aufklärungsarbeit in Schulen oder Rechtsberatung, wenn sich Eltern unsicher fühlen.
Wie verändert sich der Familienalltag?
Die schwierigste Umstellung ist, sich als Familie daran zu gewöhnen, dass das Kind nicht einfach so essen kann, sondern vorher Insulin spritzen muss. Was man isst, wie viel Kohlenhydrate das sind, wie viel Insulin gespritzt werden muss: Diese Berechnungen stellen in der ersten Zeit eine grosse Herausforderung dar. Das braucht Übung. Der Zeithaushalt im Alltag muss anders geplant werden, weil alltägliche Dinge plötzlich viel länger dauern. Ob man ein oder mehrere Kinder hat, wie alt sie sind und welche Art von Unterstützung man als Eltern hat, macht einen grossen Unterschied. Vielfach müssen die Geschwister zurückstehen, weil das erkrankte Kind stark im Fokus ist. Es ist wichtig, dass man sie nicht vergisst.
Stichwort Ernährung: Worauf gilt es zu achten?
Das Ziel ist, dass das Kind so weiterisst, wie es das vorher getan hat. Das Insulin wird der gewohnten Ernährung angepasst. Süssgetränke sind schwierig, aber ansonsten gibt es keine spezielle Diät, keine Verbote. Das finde ich sehr wichtig. Jede Familie hat ihre eigenen Essenszeiten und -regeln, und diese sollen beibehalten werden.
Wie beeinflusst Diabetes die Kita-, Kindergarten- und Schulzeit?
Nach einer Diagnosestellung im Kleinkindalter muss in der Kita oder im Hort abgeklärt werden, ob eine Betreuung gewährleistet werden kann. Je nach Institution ist das sehr unterschiedlich. Gleiches gilt beim Eintritt in den Kindergarten: Je nach Therapie muss abgestimmt werden, ob ein Elternteil zum Znüni kommt, ob das telefonisch geregelt werden kann oder ob die Betreuungsperson Erfahrung hat und bereit ist, das Kind zu unterstützten. In Ausnahmefällen kann die Kinderspitex den Einsatz übernehmen. Ideal ist das nicht, da das Kind so in eine Sonderstellung gerät. In der Schulzeit werden die Kinder dann immer selbstständiger und regeln das meiste selbst. Die Lehrpersonen sind oft nur im Hintergrund und stehen mit den Eltern im Austausch.
Hat die Diabetes-Erkrankung Auswirkungen auf den Freundeskreis?
Im jungen Alter sind Kinder sehr offen und betrachten das Ganze als etwas Spannendes. Wir ermutigen Eltern dazu, mit in den Kindergarten oder in die Schule zu gehen und den Gspänli zu zeigen, wie das Blutzuckermessgerät funktioniert. Es soll kein Tabuthema sein. Ich ermuntere Kinder dazu, ihren engen Freunden vom Diabetes zu erzählen, später auch den ersten Beziehungspartnern. Sie dürfen in die Praxis mitkommen, damit sie Bescheid wissen und teilhaben. Besonders in der Pubertät, wenn es um Ausgang und Alkohol geht, ist es gut, wenn Freunde wissen, was sie tun müssen, falls es zur Unterzuckerung kommt.
Was muss während der Ferien oder bei Schulausflügen beachtet werden?
Bei Ausflügen kommt es stark auf die Selbstständigkeit des Kindes und auf das Sicherheitsbedürfnis der Eltern an. Grundsätzlich ist aber alles möglich. Je nach Aktivität kann das Kind einen anderen Insulinbedarf haben als im Alltag, das muss man beachten und anpassen. Auf Reisen sollte man ausserdem genug Insulin und Ersatzmaterial mitnehmen. Auch braucht es eine Flugbescheinigung, um das Insulin im Handgepäck zu transportieren.
Können Kinder mit Diabetes Typ 1 ein Leben ohne grosse Einschränkungen führen?
Wir versuchen, die Kinder und ihre Familien so zu unterstützen, dass ihr Leben so normal wie möglich ist und sie wie alle anderen Kinder aufwachsen können. Trotzdem macht der Diabetes keine Pause und lebt tagtäglich mit der Familie.
2 Typen von Diabetes
Typ-1-Diabetes ist eine Autoimmunerkrankung, die häufig in jungen Jahren auftritt. Dabei bilden sich Antikörper, die die Aktivität der Bauchspeicheldrüse herabsetzen oder beeinflussen. Es wird nicht genügend Insulin ausgeschüttet, bis die Produktion irgendwann komplett versiegt. Ohne Insulin gelangt der Zucker aus der Nahrung nicht in die Zelle, um dort Energie zu produzieren, sondern verbleibt im Blutkreislauf. Der Körper gleicht das aus, indem er an seine Fettreserven geht, um weiter zu funktionieren. Man nimmt ab, wird müde und schlapp, hat viel Durst und muss häufig Wasser lassen. Ohne Insulintherapie stirbt die betroffene Person. Bisher ist Typ-1-Diabetes nicht heilbar, sodass ein Leben lang Insulin gespritzt werden muss.
Typ-2-Diabetes tritt vermehrt in höherem Alter auf und wird durch eine Insulinresistenz der Zellen verursacht, die mit einer verminderten Insulinfreisetzung gekoppelt ist. Neben einer erblichen Veranlagung gelten Übergewicht und Bewegungsmangel als die wichtigsten Verursacher. Mit einer Gewichtsreduktion oder Medikamenteneinnahme kann man bei Typ 2 gegensteuern.
Swiss Diabetes Kids
Der gemeinnützige Verein unterstützt Familien mit Kindern und Jugendlichen mit Diabetes Typ 1. Institutsunabhängig betreut und begleitet Swiss Diabetes Kids betroffene Familien durch Informationsvermittlung, Dialog, Austausch, emotionale Unterstützung und Kontaktherstellung zum Netzwerk. Je nach Region werden Events wie Familien-, Jugend- oder Mütterwochenenden und Elterntreffs angeboten, die zu einem positiven Umgang mit Diabetes beitragen sollen.