Essstörungen sind für viele immer noch ein Tabuthema. Dr. Dagmar Pauli, Chefärztin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, erläutert die häufigen Auslöser und empfiehlt, auf vorbeugende Massnahmen zu setzen.
Dagmar Pauli
stellvertretende Direktorin und medizinische Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, klinische Dozentin der Universität Zürich
Frau Pauli, welche Arten von Essstörungen können bei Kindern und Jugendlichen
auftreten?
Im Kindesalter gibt es das sogenannte Picky Eating. Bei diesem selektiven Essverhalten essen Kinder wenig und eher ungesund. Hier machen sich Eltern meist zu viele Sorgen, denn in der Regel nehmen die Kinder entlang der Wachstumskurve zu. Die Magersucht (Anorexie) hingegen ist verbunden mit einem bewussten Gewichtsverlust. Kinder und Jugendliche wollen gezielt abnehmen oder nicht zunehmen, weil sie ein verzerrtes Körperbild und falsche Idealvorstellungen haben. Früher waren die jüngsten 12 Jahre alt, heute haben teils schon 10-Jährige eine typische Magersucht. Eine weitere Essstörung ist die Bulimie (Ess-Brech-Sucht). Betroffene wollen ebenfalls bewusst abnehmen, was zu Diätphasen und Hungerperioden mit anschliessenden Essattacken führt, bei denen unkontrolliert sehr viel auf einmal gegessen wird. Gegenmassnahmen sind dann Erbrechen, exzessiver Sport oder Abführmittel.
Auch bei Binge-Eating treten unkontrollierte Essanfälle auf. Betroffene verschlingen dabei ungewöhnlich grosse Mengen an Essen.
Das stimmt, jedoch ohne Gegenmassnahmen und führt mit der Zeit zu Übergewicht. Es gibt viele weitere atypische Formen von Essstörungen, die nie in Behandlung kommen, jedoch auch mit einem hohen Leidensdruck verbunden sind. Am häufigsten sind Mädchen und junge Frauen betroffen.
Gibt es Faktoren, die Essstörungen bei jungen Menschen begünstigen?
Es gibt eine gewisse genetische Disposition, die eine Veranlagung begünstigen kann. Auch weiss man, dass perfektionistische Menschen mit hohen Leistungsansprüchen an sich selbst stärker dazu neigen, eine Essstörung zu entwickeln. Auslösend sind aber oft soziale Faktoren wie gesellschaftlicher Druck sowie der Konsum von sozialen Medien.
Welche Anzeichen deuten auf eine Essstörung hin?
Das Hauptwarnzeichen ist ein schneller Gewichtsverlust. Kinder und Jugendliche essen nicht mehr gerne in Gesellschaft, haben stets Ausreden. Sie vermeiden Kohlenhydrate und Fett, essen sehr selektiv, oft nur Salat und Gemüse. Dazu kommen meist übertriebenes Wiegen und zwanghaftes Kalorienzählen. Oder sie verschwinden nach dem Essen regelmässig auf der Toilette. Blässe und kalte Hände sind weitere Anzeichen. Auch die Psyche verändert sich: Sie sind ernst, zurückgezogen, empfindlich und gereizt.
Wie sollten Eltern dann am besten vorgehen?
Anfangs nicht zu viel Druck machen. Ich rate, in aller Ruhe das Gespräch zu suchen – und zwar nicht beim Essen. Eltern sollten dem Kind klar mitteilen: Ich habe beobachtet, was du tust, und ich mache mir Sorgen um dich. Und dann zuhören: Was beschäftigt das Kind in Bezug auf Selbstwert und Dicksein? Man sollte versuchen zu verstehen, welche Gedanken und Gefühle dahinterstecken. Wenn Gespräche nicht funktionieren und Symptome einer Essstörung da sind, müssen Eltern ihre Autorität einsetzen und darauf bestehen, dass man gemeinsam zur Kinderärztin oder zur Beratungsstelle für Essstörungen geht, um eine fachärztliche Beurteilung einzuholen. Wichtig ist, früh zu intervenieren und nicht zu lange zuzuschauen.
Welche Therapiemöglichkeiten gibt es für Kinder und Jugendliche mit Essstörungen?
Ist die Essstörung noch in den Anfängen und die Eltern holen früh fachlichen Rat ein, reicht meist eine ambulante Therapie. Die Therapiegespräche dienen dazu, das Essverhalten wieder zu normalisieren, aber auch, um die dahinterliegenden Probleme, die oft mit Selbstwert, Perfektionismus, Leistungsansprüchen usw. zu tun haben, zu behandeln. Wir bieten eine familienbasierte Behandlung an, in der Eltern die Aufgabe haben, die Kinder bei den Mahlzeiten zu unterstützen. Die elterliche Begleitung ist ein wichtiger Bestandteil der Behandlung. Sie sorgt für emotionale Unterstützung und signalisiert dem Kind: Wir geben nicht auf, wir begleiten dich, wir stehen das zusammen durch und wir glauben daran, dass du es schaffst. Viele Betroffene berichten, dass das sehr wichtig für sie ist. Wenn die Symptomatik sich jedoch verschlechtert und man familienbasiert nichts mehr bewegen kann, muss die Behandlung stationär erfolgen. Ein Klinikaufenthalt ist dann unvermeidbar.
Haben Sie einen Rat für Eltern und Familienangehörige?
Ich empfehle, beim Vorbeugen anzusetzen. Essstörungen basieren auf mangelndem Selbstwertgefühl. Eltern sollten Kinder dabei unterstützen, dass sie sich in ihrem Körper wohlfühlen, so wie sie sind. Gewicht und Figur sollten nicht kritisiert werden. Eltern müssen Vorbilder sein, die zu ihrem eigenen Körper stehen und Körperdiversität begrüssen, anstatt perfektionistische Schlankheitsideale zu unterstützen. Auf keinen Fall sollten Eltern Diäten mit ihren Kindern machen. Falls Kinder abnehmen müssen, dann nur langsam und mit dauerhaften Verhaltensänderungen, die zuerst die Eltern vornehmen: etwa keine Süssgetränke mehr im Haus haben oder die Kochgewohnheiten für die ganze Familie umstellen. Bei einer bestehenden Essstörung brauchen Eltern und Angehörige viel Durchhaltewillen und Geduld – und womöglich auch fachliche Unterstützung für sich selbst. Aber sie sollten die Hoffnung nie aufgeben. Ich habe auch sehr schwere Fälle gesehen, bei denen es nach Jahren wieder bergauf ging.
Hilfsangebote und Fachstellen
Laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) sind 3,5% der Schweizer Wohnbevölkerung im Lauf ihres Lebens von einer Essstörung betroffen. Bei diesen Anlaufstellen erhalten Betroffene und Angehörige Hilfe:
- Schweizerische Gesellschaft für Essstörungen (SGES) setzt sich für die Prävention, Diagnose, Behandlung und Erforschung von Essstörungen in der Schweiz ein. Die Fachstelle informiert, sensibilisiert die Öffentlichkeit und vernetzt Fachpersonen. sges-ssta-ssda.ch
- PEP Prävention, Essstörungen, Praxisnah engagiert sich in der Prävention und Früherkennung von Essstörungen und bietet Betroffenen und Angehörigen praktische Hilfe. pepinfo.ch
- Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen AES vereint ehemals Betroffene, Angehörige und Fachleute, um Menschen mit Essstörungen und Essproblemen zu informieren und zu unterstützen. aes.ch