Konzentrationsstörungen bei Kindern

Ratgeber / Kind & Familie

Konzentrationsstörungen bei Kindern

24.03.2022 / von 

Konzentrationsstörungen bei Kindern sind belastend – für Kind und Eltern. Warum sie nicht auf ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Energie zurückzuführen sind, erklärt der Schulpsychologe Frank Ruthenbeck.

Frank Ruthenbeck
Die Reduktion der Bildschirmzeit hilft oftmals schon.

Frank Ruthenbeck

Leiter des Schulpsychologischen Dienstes Winterthur-Land

Herr Ruthenbeck, wodurch können Konzentrationsstörungen bei Kindern ausgelöst werden?

Kinder, die unter Konzentrationsstörungen leiden, haben ein sehr grosses Sensorium. Sie nehmen sehr viel – um nicht zu sagen alles – um sich herum wahr. Im Schulzimmer kann eine Ablenkung durch die kleinste Kleinigkeit ausgelöst werden. Zum Beispiel durch einen Bleistift, der zu Boden fällt. Auch Kinder, die über lange Zeit emotional belastet sind, können von Konzentrationsstörungen betroffen sein. Oder Kinder, denen weder Grenzen gesetzt noch Strukturen geboten werden.

Was sind die häufigsten Anzeichen für Konzentrationsstörungen?

Konzentrationsstörungen haben häufig mit Energie und Kraft zu tun. Entgegen der allgemeinen Vorstellung haben betroffene Kinder denn auch nicht zu viel, sondern zu wenig Energie. Wenn ein Kind keine Energie mehr hat, wird es nämlich unruhig. Die betroffenen Kinder sind oftmals unstrukturiert, eigenwillig oder können sich nicht an Abmachungen halten. Die Kinder können ihre Fähigkeiten und das Gelernte häufig in Prüfungen nicht aufs Blatt bringen, was nicht an der Intelligenz liegt.

Wie diagnostizieren Sie Konzentrationsstörungen in der Praxis?

Konzentrationsstörungen zeigen sich im Alltag, vor allem in der Schule, wenn die Kinder ihre Leistungen nicht erbringen können. Klassischerweise wird die Diagnose von medizinischer Seite gestellt. In meinem Berufsalltag geht es mehr um den Umgang mit der Störung.

Und was genau hilft betroffenen Kindern?

Alles, was Kraft gibt und die Lebensenergie fördert: genügend Schlaf, gute Ernährung, viel Bewegung, frische Luft, echte Beziehungen, spielen – all dies sollte gefördert werden. Sehr effizient ist auch die Reduktion des Bildschirmkonsums. Bildschirmzeit ist eine wahre Kraftfresserin, denn Kinder mit hoher Sensibilität können die gesehenen Bilder nicht einfach weglegen. Häufig sind aber gerade sie sehr auf den Bildschirm fixiert, weil sie in der virtuellen Welt meist einfacher Erfolgserlebnisse verzeichnen als in der realen. Sie brauchen Eltern, die Grenzen setzen und ihnen aufzeigen, weshalb mehr als eine halbe Stunde Bildschirmzeit pro Tag nicht gut ist für sie. Es geht um Klarheit verbunden mit einer liebevollen Haltung. Denn Strenge allein bewirkt gerade bei sensiblen Kindern in der Regel das Gegenteil der gewünschten Reaktion.

Dann arbeiten Sie auch intensiv mit den Eltern?

Bei den Eltern liegt das grösste Potenzial. Sie können Tagesstrukturen einrichten, diese mit dem Kind visualisieren und ihm so Sicherheit vermitteln. Zu viel Flexibilität hingegen verunsichert. Zentral ist auch, dass die Eltern konsequent sind und nur das sagen, was sie auch einhalten können: also keine leeren Versprechungen oder Drohungen. Auch wenn die Konsequenz für das Kind schmerzhaft ist, ist sie besser als eine leere Drohung. Wenn nach einer Drohung nichts geschieht, kann das Kind seinem Gegenüber immer weniger vertrauen und verliert damit mehr und mehr auch das eigene Selbstvertrauen.

Wie kann man als Elternteil das Kind beim Lernen zu Hause unterstützen?

Beim Lernen ist es wichtig, keinen Druck auszuüben, weil konzentrationsschwache Kinder unter Druck nicht funktionieren. Lernen sollte Spass machen und mit positiven Gefühlen verbunden sein. Man muss schauen, dass die Kinder Erfolgserlebnisse haben, die motivierend sind. Wenn sie von sieben Aufgaben zwei richtig lösen, dann gilt es, die zwei korrekten Lösungen hervorzuheben. So kommen sie in eine positive Spirale. Hilfreich ist es auch, sich mit der Lehrperson abzusprechen.

Treten Konzentrationsstörungen heutzutage vermehrt auf?

Gemäss meinen Erfahrungen haben sie zugenommen, aber wissenschaftlich lässt sich das nicht so leicht belegen. In meinem Alltag beobachte ich seit längerer Zeit, dass die Reizüberflutung – im Wesentlichen ausgelöst durch den erhöhten Medienkonsum – zu vermehrten Konzentrationsproblemen geführt hat.