Fehlgeburt

Ratgeber / Kind & Familie

Halt finden nach einer Fehlgeburt

23.05.2025 / von 

Betroffene fühlen sich oft alleingelassen. Anna Margareta Neff Seitz leitet die Fachstelle kindsverlust.ch und erzählt im Interview, wo Eltern Hilfe finden und wie sie wieder Zuversicht schöpfen.

Anna Margareta Neff Seitz
Aktuell läuft eine Fehlgeburt vor der zwölften Woche unter Krankheit. Es ist aber keine Krankheit.

Anna Margareta Neff Seitz

Hebamme MSc, Trauerbegleiterin, Dozentin und Leiterin von kindsverlust.ch

Wie oft kommen Fehlgeburten vor und wann treten sie am häufigsten auf?

Bei frühen Fehlgeburten, die bis zur zwölften Schwangerschaftswoche eintreten, wird keine Statistik erhoben. Man schätzt, dass pro Jahr etwa 20'000 Frauen in der Schweiz eine Fehlgeburt erleben. Die meisten ereignen sich bis zur achten oder neunten Woche. Pro Jahr gibt es in der Schweiz 80'000 Geburten. Also kommt es bei einem Viertel bis Fünftel aller Schwangeren zu einer Fehlgeburt.

Gibt es bestimmte Faktoren, die das Risiko für eine Fehlgeburt erhöhen?

In den meisten Fällen gibt es keine klare Ursache. Viele Frauen fragen sich nach einer Fehlgeburt, ob sie etwas falsch gemacht haben. Es ist wesentlich für sie zu verstehen, dass es nicht in ihren Händen liegt. Nach mehreren Fehlgeburten wird den Frauen empfohlen, abzuklären, ob es gesundheitliche Gründe gibt, die die Entwicklung des Kindes verhindern. Doch man findet in den seltensten Fällen etwas.

Welche emotionalen Auswirkungen hat eine Fehlgeburt auf die Betroffenen und ihr Umfeld?

Paare und insbesondere Frauen fühlen sich häufig alleingelassen. Viele teilen ihrem Umfeld vor der zwölften Schwangerschaftswoche nicht mit, dass sie ein Kind erwarten. Die werdende Mutter hat jedoch vom ersten Moment an eine Verbindung zum ungeborenen Kind und entwickelt Gefühle der Fürsorge und Liebe. Heutzutage erfahren Frauen oft im Rahmen einer Ultraschalluntersuchung, dass ihr Kind gestorben ist, während es ihr Körper noch gar nicht realisiert hat. Das führt oft zu einer emotionalen Diskrepanz.

Viele Betroffene stehen erst einmal unter Schock, wenn sie erfahren, dass das Kind im Bauch gestorben ist. Wie handelt man in dieser Situation am besten?

Solange kein Gesundheitsrisiko besteht, muss und sollte nicht schnell gehandelt werden. Es gilt innezuhalten und den ersten Schock zu verdauen. Erst dann ist der Zeitpunkt, um zu schauen, wie die Frau weitergehen möchte. Es kann vorkommen, dass betroffene Frauen sehr rasch Medikamente erhalten, welche die Wehen einleiten. Betroffene werden nicht immer darüber informiert, dass sie auch zuwarten können, bis der Körper die Geburt von alleine auslöst.

Wie verarbeitet man ein solches Ereignis am besten?

Meine Erfahrung ist: Es gibt kein Weiterleben ohne Kind, wenn ein Kind verstorben ist, sondern es gibt ein Weiterleben mit dem verstorbenen Kind. Viele Frauen, die sich bei uns melden, sagen, sie seien im Moment überfordert gewesen und bereuten es, das Baby im WC einfach weggespült zu haben. Wenn man vorbereitet ist und das möchte, kann man das Baby auch auffangen, es sich anschauen und bewusst Abschied nehmen, zusammen mit dem werdenden Vater und weiteren Angehörigen. Ein fehlgeborenes Kind gehört zur Familiengeschichte und es hilft, wenn diese Erfahrung in die eigene Biografie integriert werden kann.

Wie kann das Umfeld Betroffene unterstützen?

Das Umfeld ist oft überfordert und meidet das Thema, um keine unangenehmen Emotionen auszulösen. Das verstärkt jedoch das Gefühl des Alleinseins der Eltern. Eine Frau nach einer Fehlgeburt zu fragen, wie es ihr geht, ist meist nicht hilfreich. Eine Möglichkeit wäre, sie zu fragen, wie sie die Fehlgeburt erlebt hat. Man darf auch offen sagen, dass man überfordert ist oder sprachlos und zugleich gerne unterstützen möchte. Auch Gesten, wie Blumen vor die Tür stellen, können ein schönes Zeichen sein, dass man für die Betroffenen da ist.

Welche Hilfsangebote gibt es für Frauen und Paare, die eine Fehlgeburt erlebt haben?

Viele Paare wissen nicht, dass sie eine Hebamme konsultieren dürfen. Hebammen begleiten nicht nur bei der Geburt und im Wochenbett, sondern auch während der Schwangerschaft. Das Wichtigste ist, dass die Frauen wieder zu sich selber finden und nicht allein sind. Manchmal reicht schon ein Telefongespräch.

Welche Rolle spielt die Fachstelle kindsverlust.ch in der Aufklärung und Unterstützung?

Wir bieten Betroffenen eine kostenlose Beratung an. Zudem versuchen wir, möglichst viel Aufklärungsarbeit zu leisten und Fachpersonen weiterzubilden. Wir wollen sie befähigen, Betroffene zu begleiten. Diese Kompetenz ist in der medizinischen Versorgung nicht abgedeckt. Als ich mich der Thematik verstärkt angenommen habe, ist mir bewusst geworden, dass eine Fehlgeburt auch mit uns Fachpersonen etwas macht. Wenn eine Gynäkologin im Ultraschall sieht, dass das Baby tot ist, dann kann das für sie auch ein Schockmoment sein. Sie muss sich aber so regulieren können, dass sie für die Betroffenen da sein kann. Denn Sicherheit und Stabilität helfen den Eltern bei der Bewältigung.

Wie können Paare, die nach einer Fehlgeburt eine erneute Schwangerschaft planen, zuversichtlich bleiben und mit ihren Ängsten umgehen?

Wichtig ist, dass Betroffene zwischen der letzten Schwangerschaft, in der das Kind gestorben ist, und einer neuen Schwangerschaft zu unterscheiden lernen. Diesen Prozess können spezialisierte Hebammen gut begleiten. Paare dürfen sich hier wirklich Hilfe holen. Frauen, die den Prozess selbstbestimmt durchlebt haben, haben mehr Körpervertrauen und weniger Angst vor einer nächsten Schwangerschaft.

Wie kann die Gesellschaft dazu beitragen, Fehlgeburten zu enttabuisieren?

Der wichtigste Schritt ist die rechtliche Anerkennung, dass die Schwangerschaft ab dem ersten Moment unter Mutterschaft läuft. Aktuell läuft eine Fehlgeburt vor der zwölften Woche unter Krankheit. Es ist aber keine Krankheit. Dieser Umstand gibt den Eltern überhaupt keine Anerkennung für das verstorbene Kind. Der zweite Schritt ist, dass betroffene Eltern viel mehr über ihre Erfahrungen einer Fehlgeburt reden – innerhalb und ausserhalb der Familie.

kindsverlust.ch

Die Fachstelle ist als Verein organisiert und versteht sich als Kompetenz- und Ausbildungszentrum beim frühen Kindsverlust. Ziel ist die nachhaltige Unterstützung beim Tod eines Kindes während Schwangerschaft, Geburt und erster Lebenszeit. Dazu bildet kindsverlust.ch Fachpersonen der involvierten Berufsgruppen aus, berät kostenlos betroffene Familien und sensibilisiert die Öffentlichkeit.