Scherenschnitt

Kunst aus Papier

Bei den Landfrauen hat Esther Gerber ihre Leidenschaft für den Scherenschnitt entdeckt. Im Interview gibt die Künstlerin Einblicke in das traditionelle Kunsthandwerk und erklärt, wie sie das Sujet für die Weihnachtskampagne entwickelt hat.

Esther Gerber
Geschenke oder Alltagsgegenstände mit aufgedruckten Scherenschnittsujets sind sehr gefragt.

Esther Gerber

Scherenschnittkünstlerin

Wie haben Sie Ihre Leidenschaft für den Scherenschnitt entdeckt?

Vor 32 Jahren habe ich einen Scherenschnittkurs bei den Landfrauen besucht. Mich faszinierte, dass ich bei diesem Handwerk das Zeichnen und Schneiden kombinieren konnte. Ich war damals auf der Suche nach einer Tätigkeit, der ich daheim nachgehen konnte, während die vier Kinder in der Schule waren. Mein Mann schenkte mir später einen Kurs bei Ernst Oppliger, einem bekannten Schweizer Scherenschneider. Der Kurs begeisterte mich: Ich wusste, dass ich die richtige Tätigkeit gefunden hatte.

Was inspiriert Sie am Scherenschneiden?

In erster Linie das Zeichnen. Ich kann alles auf Papier bringen, was ich darstellen möchte, und auch das, was meine Kundschaft wünscht. Zeichnen ist eine Begabung, die mir in die Wiege gelegt wurde.

Gibt es in der Schweiz viele Scherenschnittkünstler*innen?

Seit ungefähr zehn Jahren gibt es einen grossen Boom – sehr viele Junge haben mit dem Scherenschneiden angefangen. Auch der Verein «Freunde des Scherenschnitts» wächst. Etwa die Hälfte der rund 500 Mitglieder sind aktive Scherenschneiderinnen und -schneider. Aber nur wenige vertreiben so viele Produkte wie ich.

Inwiefern unterscheidet sich der moderne vom klassischen Scherenschnitt?

Es gibt riesige Unterschiede: Jede Scherenschnittkünstlerin, jeder Scherenschnittkünstler hat einen eigenen Stil. Die Jungen machen moderne, grafische und verrückte Sachen. Sie schneiden oft mit dem Messer und nicht mit der Schere. Das hat nichts mit traditionellem Scherenschnitt zu tun, ist aber auch sehr gut. Meine Kundinnen und Kunden suchen den tradtitionellen Scherenschnitt, so wie man ihn kennt: mit Bergen, Tieren, Landschaften, Bäumen und Menschen. Bei den Jungen geniesst das Bodenständige wieder einen höheren Stellenwert. Das merke ich unter anderem an der grossen Nachfrage nach Sujets für Tattoos, die zum Teil sehr grossflächig sind.

Welche Materialien verwenden Sie für Ihre Scherenschnitte?

Ich verwende ausschliesslich ein sehr dünnes, 40 bis 50 Gramm schweres Papier. Es ist auf einer Seite schwarz beschichtet, damit es lichtecht ist. Die andere Seite ist grau, damit ich darauf zeichnen kann. Für mich ist der traditionelle Scherenschnitt schwarz-weiss.

Können Sie uns einen Einblick in Ihren Arbeitsalltag geben?

Am Morgen besprechen wir meistens im Team, welche Aufträge anstehen und woran wir arbeiten. Dann zeichne oder schneide ich. Ich arbeite nie nur an einem Auftrag, sondern immer an mehreren parallel. Ich zeichne, solange es mir einfach von der Hand geht. Sobald ich anfangen muss zu korrigieren, höre ich auf und schneide.

Ist die Arbeit sehr anstrengend für die Augen und Hände?

Für mich ist weder das Zeichnen noch das Schneiden anstrengend. Beides mache ich gern – es ist mehr Hobby als Arbeit. Das Schneiden ist Übungssache: Ich kann gut fünf Stunden lang schneiden, ohne dass meine Augen tränen. Dabei arbeite ich mit einer Lupenlampe oder draussen im Sonnenlicht.

Wie lange dauert es im Durchschnitt, bis Sie ein Kunstwerk vollendet haben?

Das hängt von der Grösse und den Sujets des Scherenschnitts ab: Für die kleinsten Scherenschnitte, die 4 x 4 cm gross sind, benötige ich zwei bis vier Stunden. In die grössten Werke habe ich über 200 Stunden investiert.

Gibt es Werke, auf die Sie besonders stolz sind?

Die Zusammenarbeit mit Firmen fordert mich oft besonders heraus, ist aber auch mit schönen Erlebnissen verbunden. So konnten wir zum Beispiel für ein Schweizer Uhren- und Schmuckgeschäft die Schaufenster und für einen Schweizer Hersteller ein Flugzeug dekorieren. Mit dem Flugzeug durften wir später einen Rundflug machen – ein Erlebnis, das ich so rasch nicht vergessen werde. Grundsätzlich mache ich herausfordernde Scherenschnitte am liebsten – es reizt mich, wenn es etwas knifflig wird.

Wo finden Sie die Inspiration für neue Ideen?

Es gibt ganz unterschiedliche Inspirationsquellen: zum Beispiel in den Ferien oder auf Spaziergängen. Aber auch meine Kundinnen und Kunden inspirieren mich mit ihren Wünschen.

Haben Ihre Arbeiten ein besonders Markenzeichen?

Am ehesten sind das die Bäume – sie kommen in allen meinen Werken vor. Ich zeichne sie ziemlich naturgetreu, während viele andere Künstlerinnen und Künstler stilisierte Bäume oder Fantasiebäume gestalten.

Sie leben vom Scherenschnitt und führen ein vierköpfiges Team – wie hat sich die Nachfrage in den letzten Jahren entwickelt?

Als ich vor rund 20 Jahren erste kleine Scherenschnittgeschenke verkaufte, war ich eine Vorreiterin. Doch die Nachfrage nahm stetig zu. Seit ungefähr zehn Jahren führe ich das Geschäft mit meiner Schwiegertochter. Sie hat mit dem digitalen Vertrieb begonnen und den Online-Shop eingeführt. Damit wuchs der Verkauf explosionsartig.

Welche Produkte sind bei der Kundschaft besonders beliebt?

Geschenke oder Alltagsgegenstände mit aufgedruckten Scherenschnittsujets sind sehr gefragt: zum Beispiel Tischsets und Servietten, Kaffee- und Trinkgläser oder Küchentücher. Scherenschnittbilder verkaufen wir weniger oft – sie kosten mehr und sind etwas Persönliches, das auch in eine Wohnung passen muss.

Sie haben unser Weihnachtssujet kreiert. Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Zuerst wollte ich einen Rand gestalten, der einen Bezug zur Apotheke oder Drogerie schafft. Statt gewöhnlicher Blumen habe ich Anissterne, Aroniabeeren und Ginkgoblätter verwendet, die als Heilpflanzen geschätzt werden. Das Innere des Bildes habe ich spontan gezeichnet: ein kleines Dorf mit Drogerie, Bäckerei und einem Spielladen, mit Häusern, in denen Menschen sitzen, und mit Kindern, die draussen Ski fahren. Die verschiedenen Details zeigen Menschen, die Rat in der Drogerie Apotheke holen, oder Personen, die auf einen Rollator oder Rollstuhl angewiesen sind oder einen kleinen Unfall hatten. Die Botschaft soll aufzeigen, dass man in der Drogerie Apotheke fachkundige Hilfe bekommt. Für das Zeichnen und Schneiden habe ich ungefähr 70 bis 80 Stunden aufgewendet.

Vom Scherenschnitt zum Papierschnitt

Der Scherenschnitt wurde im 17. Jahrhundert aus China oder Persien nach Europa importiert. Im 18. Jahrhundert waren Silhouettenporträts bzw. Schattenrisse populär – sogar Johann Wolfgang von Goethe hielt Bekannte in dieser Art fest. Im 19. Jahrhundert gehörte der Scherenschnitt wie das Klavierspiel und das Malen zur Bildung der «höheren» Töchter. Von den Städten verbreitete sich das Kunsthandwerk allmählich in ländliche Regionen. Johann Jakob Hauswirth aus dem Pays d’Enhaut im Waadtland zeigte in seinen Werken als einer der Ersten den alpinen Alltag. Heute gibt es in der Scherenschnittkunst eine grosse künstlerische Vielfalt, die vom Alpaufzug über die Karikatur bis zur Abstraktion reicht. Neben Scheren werden zum Schneiden auch Messer verwendet, weshalb sich die Künstler*innen auch als Papierschneider*innen und ihre Werke als Papierschnitte bezeichnen.